Derzeit laufe der interne Machtkampf zwischen den
gemässigten Reformkräften und den
Revolutionskonservativen auf allen Ebenen. Eine Verschlechterung
oder weitere Beschneidung der Lebensverhältnisse der
iranischen Bevölkerung würde dabei wohl unweigerlich zum
Machtverlust des konservativen Establishments führen. Das
Regime versuche daher, seine gefährdete Rolle kurzfristig
durch ungesunde, wirtschaftspolitisch langfristig unhaltbare
Subventionierungsmassnahmen zu stützen. Zudem habe die
iranische Führung zumindest auf Propagandaebene
unmissverständlich klargestellt, dass im Fall eines westlichen
Angriffes auf das Land ein Mehrfrontenkonflikt rund um den
arabischen Golf die unweigerliche Folge wäre, und das
zweifellos unter Einbezug von zahlreichen arabischen
Ölquellen.
Bevölkerungsexplosion, Wirtschaftsboom und
Ölpolitik
Bezüglich Ölfrage machte Tilgner auf die trotz aller
äusseren Beschränkungen durchaus wachsende
Binnenwirtschaft sowie die kontinuierliche Zunahme der
Bevölkerungszahl aufmerksam. Dadurch steigere sich auch der
Energieverbrauch Irans exponentiell. Zwar verfüge das Land
über die drittgrössten Erdölreserven der Welt, die
Effizienz der Ausbeutung sei jedoch durch die
rückständige Fördertechnik infolge der
internationalen Sanktionspolitik schon längst nicht mehr
zeitgemäss. Tilgner wies auf Hochrechnungen hin, die besagen,
dass der Iran ab ca. 2013/2015 wegen des stetig wachsenden
Eigenbedarfs nicht mehr in der Lage sein werde, Erdöl zu
exportieren. Da derzeit zudem alle Warenströme nach Europa
durch die verschärfte Sanktionspolitik behindert seien,
würden diese durch Exporte in den ostasiatischen Raum
kompensiert. Der rasant wachsende Zusatzbedarf an Erdöl in
diesen Schwellenländern mache dabei in Anbetracht der
verhärteten politischen Rahmenbedingungen die Situation
für den Westen langfristig nicht einfacher, wie der
Nahostkenner meinte. Durch ein Umlenken der Gasströme weg von
Europa wäre Russland als europäischer Hauptlieferant in
der Rolle des Profiteurs. Das gleiche würde auch für eine
militärische Eskalation rund um die Schiffspassage von Hormuz
gelten, wo die Tanker die Hauptmengen des Erdöls für
Europa transportieren. Wie Tilgner berichtete, seien bei den
jüngsten Verhandlungen um die UN-Sanktionen die Interessen
Russlands weitgehend uneingeschränkt berücksichtigt
worden, indem Atomexporte von Russland in den Iran durch die
Beschlüsse praktisch nicht betroffen seien.
Zunehmende Bildung und neue Rolle der
Frauen
Seit den Jahren der islamischen Revolution habe sich im Iran die
Bildungssituation deutlich verbessert; die Analphabetenrate
läge heute für die junge Generation landesweit praktisch
bei Null, und Absolventen von angesehenen Universitäten im
Land seien auch im Ausland hoch willkommen, führte Tilgner
aus. Bei einem eher als Stagnation wahrgenommenen jährlichen
Wirtschaftswachstum von rund 6% bestehe im Iran einerseits ein
beträchtlicher Bedarf an Akademikern, andererseits müssen
aber auch für die Beschäftigung der stetig wachsenden
Bevölkerung jährlich zunehmend mehr Arbeitsplätze
geschaffen werden. Wie Tilgner aufgrund seiner Beobachtungen
versicherte, werde dieser Entwicklungsboom wesentlich durch gut
ausgebildete Frauen mitgetragen. Inzwischen seien sogar in
technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen rund 60%
der Universitätsabsolventen Frauen. Selbst in seinem eigenen
Produktionsteam habe er inzwischen zwei Frauen als Assistentinnen
angestellt, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen
wäre. «Die Frauen sind einfach besser» – warf
Medienmann Tilgner anerkennend ein und erhielt dafür den
spontanen Applaus des Publikums. Dennoch bringe diese Entwicklung
langfristig auch gewisse soziale Probleme mit sich, da die gut
ausgebildeten Frauen häufig Schwierigkeiten hätten,
geeignete Ehepartner zu finden.
Teilweise kontraproduktive Sanktionen
Im Fall eines militärischen Angriffs auf iranische
Atom-Produktionsstätten ist Tilgner der Ansicht, dass sich ein
daraus entstehender kriegerischer Konflikt nicht auf den Iran
alleine beschränken liesse; denn seine technische Entwicklung
sei teilweise überraschend hochstehend, da im Iran –
ähnlich wie in China – ausländische
Hochtechnologieprodukte virtuos kopiert und modifiziert
würden. Der Transfer von westlichen Hightech-Produkten und
modernen Waffensystemen sei trotz der bestehenden Handelssanktionen
nämlich in Anbetracht des Kriegschaos im benachbarten Irak
nicht zu unterbinden. Sollte das derzeit gehandhabte
Sanktionsregime gegen den Iran noch verschärft werden,
könne sich das Land mit seiner gegenwärtigen Entwicklung
vielleicht noch sechs bis acht Jahre auf seine Rohstoffe,
Geldmittel und Manpower abstützen, bevor es politisch
kollabiere und damit als Faktor im Nahen Osten implodiere, –
und das mit durchaus vorhersehbaren Konsequenzen, wie Ulrich
Tilgner abschliessend betonte.
Autor: Dr. Matthias Nagel, Empa
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